Aktuell mache ich ein Praktikum im Forschungszentrums Jülich und unterstütze die Kolleg:innen in der Unternehmenskommunikation bei ganz unterschiedlichen Aufgaben. Vor drei Wochen traten Wissenschaftler:innen aus dem Jülicher Institut für Zivile Sicherheitsforschung an uns heran und baten, das Projekt „CrowdDNA„, das die Sicherheit bei großen Menschenansammlungen erhöhen möchte, bei der Suche nach Proband:innen für „Drängel-Experimente“ in Wuppertal zu unterstützen. Cool dachte ich. Ich hatte noch nie von dem Projekt gehört, aber es klang ziemlich spannend und relevant – vor allem jetzt, wo größere Veranstaltungen wie Konzerte oder Festivals endlich wieder möglich sind.

Für die CrowdDNA-Experimente, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen soziale Interaktionen und äußere Krafteinwirkungen in Menschenmengen untersuchen sollten, wurden insgesamt 700 Proband:innen gesucht. Marcel Bülow von der Unternehmenskommunikation und ich haben unser Bestes getan, um auf Facebook und Twitter für eine Teilnahme am Projekt zu werben. Marcel hatte dabei auch schon früh die Idee, dass ich selbst nach Wuppertal fahren, einen Tag als Probandin an den Experimenten teilnehmen und im Anschluss darüber bloggen könnte. Die Aussicht, als Versuchsperson an einem wissenschaftlichen Großexperiment teilzunehmen, fand ich sehr verlockend – auch deshalb, weil es auch für mich eine Premiere war. Für mein Studium der Kommunikationswissenschaften in Amsterdam müssen wir zwar sogenannte Forschungspunkte sammeln, indem wir an Experimenten teilnehmen, aber die fanden wegen Corona bisher alle online statt. So würde ich nun die Chance erhalten, bei einem wissenschaftlichen Experiment live dabei zu sein und tatsächlich auch mitzumachen.

Unsere Idee stellten wir den Verantwortlichen von CrowdDNA vor und am 11. Mai konnte ich teilnehmen. Wie alle Freiwilligen registrierte ich mich im Vorfeld über einen Anmeldelink und bekam auch direkt eine E-Mail, wo und wann wir uns treffen würden und dass dunkle Kleidung und festes Schuhwerk erforderlich wäre. Ich war gespannt und freute mich.

Anfahrt nach Wuppertal

Nach einer vierzigminütigen Fahrt von meinem Zuhause in Köln und einer mühsamen Parkplatzsuche fand ich mich gegen halb zwölf im Foyer des Hörsaalgebäudes K der Bergischen Universität Wuppertal ein und meldete mich für das erste Experiment „Soziale Interaktion“ an. Ich füllte notwendige Angaben zu meiner Person aus und unterschrieb eine Einverständniserklärung, dass ich unter anderem keine Angst hatte, mich in großen Menschenmengen zu bewegen, was ja der essenzielle Bestandteil des Forschungsprojekts war.

Ich gab meine Sachen ab, erhielt ein Armband mit einer Probandennummer und einen Stift, den ich während des Experiments bei mir tragen sollte, um Fragebögen auszufüllen. Aber das Wichtigste war eine orangefarbene Mütze und ein QR-Code, der auf diese geklebt war. Uns Teilnehmenden wurde der Ablauf erklärt und das Ziel des Experiments umrissen. Es muss sehr lustig ausgesehen haben, wie wir alle als dunkel gekleidete Gruppe mit den orangefarbenen Mützen noch ein wenig ahnungslos dicht beieinander standen. Wir müssen gewirkt haben wie eine ulkige unsichere Schulklasse in freudiger Erwartung.

Experiment zur Interaktion: wir drängeln uns durch

Wir versammelten uns vor mehreren Gittern, die lediglich einen schmalen Durchgang offen ließen. Zunächst erhielten wir nur die Information, dass wir uns eilig einzeln durch die enge Öffnung quetschen sollten. Kichernd warteten wir auf das „Go“ der Forschenden. Dann kam es: Die gesamte Gruppe bewegt sich in Richtung des schmalen Durchgangs. Alle waren sehr zögerlich und ließen die anderen geduldig die Engstelle passieren. Anschließend erhielten wir Fragebögen, auf denen wir angeben sollten, inwieweit wir Aussagen wie „Ich habe mich als Teil der Gruppe gefühlt“ oder „Ich habe mich ängstlich gefühlt“ zustimmen. Im Anschluss versammelten wir uns als Gruppe wieder vor dem engen Eingang und wiederholten das Experiment um das Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl und auch das Drängeln zu verstärken. Für realistischere Bedingungen und zur Überbrückung der Stille erklangen dabei ab jetzt aus Lautsprechern direkt neben uns Geräusche von Menschenmengen. Außerdem wurden auf einen Bildschirm abstrakte Animationen abgespielt. Sie verliehen dem Ganzen einen skurrilen Charakter.

Stille Post

Als eine Forschende einmal wieder grünes Licht zum Start eines neuen Durchgangs gab, und sich ein paar Versuchspersonen gerade durch den Eingang zwängten, wurde der Durchgang durch ein lautes „Stopp“ unterbrochen. Wir warteten gespannt, was nun passieren würde. Hatte jemand etwas falsch gemacht? Plötzlich erhielt ich von einer Teilnehmerin neben mir die Nachricht „Die Farbe ist blau“. Bitte was? Unter meiner Maske schaute ich sie verständnislos an. Als ich aber sah, dass alle um mich herum kicherten und hörte, wie andere Teilnehmer:innen den gleichen Satz nach dem Prinzip der stillen Post weitergaben, folgte auch ich diesem Beispiel. So ging es einige Runden weiter. Wir erhielten entweder Informationen oder Anweisungen wie „Zieh den blauen Klebepunkt von deiner Schulter ab“ und mussten anschließend angeben, ob wir die Information oder Anweisung erhalten, selbst ausgeführt, bei anderen beobachtet und auch selbst an Dritte weitergegeben hatten. Und so langsam wurde uns das eigentliche Ziel des Experiments klar: Es ging um Informationsaustausch- und verbreitung in Menschenansammlungen.

Im Anschluss machten wir noch einige weitere Durchgängen, bei denen wir als Gruppe mit mehr Kraft agierten oder eine Ticketkontrolle simuliert wurde. Doch dann war der Spaß vorbei. Nach Rückgabe der Sachen war das erste Experiment für den Tag geschafft. Ich konnte mich ein wenig in der Sonne ausruhen und machte anschließend von einem Balkon aus Fotos von Teilnehmenden, die nach mir am Experiment zur sozialen Interaktion teilnahmen. Die dicht gedrängte Gruppe orangefarbenen Mützen mit ihren QR-Codes von oben zu betrachten, war sehr amüsant – vor allem mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich eben selbst ein Teil von ihr war.

Experiment zu äußeren Kräften: wir gegen den Sandsack

Am Nachmittag sah ich zunächst zu, wie das 2. Experiment aufgebaut wurde. In der Mitte des Foyers wurden Matten ausgelegt und am Ende baumelte waagerecht von der Decke ein Sandsack, der mit T-Shirts überzogen war. Die 35 Euro Aufwandsentschädigung und/oder das Experiment an sich klangen anscheinend für viele Proband:innen verlockend (man weiß es nicht), denn die insgesamt 20 Plätze waren schon früh durch Freiwillige aus dem Kreis der Teilnehmer vergeben.

Um halb vier ging es dann schließlich mit einer Vermessung des Körpers los: Knöchel, Hüfte, Beinlänge, Größe, Gewicht, usw. Alles wurde für jeden Teilnehmenden notiert.

Anschließend zogen wir uns sogenannte x-sens Anzüge zur Bewegungserfassung an, aber das „richtige“ Anziehen war gar nicht so einfach. Es gab Sensoren am Rücken, an den Füßen und spezielle Handschuhe. Hinten im Rücken des Anzugs wurde ein Akku und der sogenannte Bodypack, so etwas Ähnliches wie eine Festplatte, verstaut. Wie die vielen Kameras im Foyer dienten sie dazu, unsere Bewegungen zu dokumentieren. Ein Stirnband und eine orangefarbene Mütze mit QR-Code gab es natürlich auch wieder. Das volle Programm also.

Jede/r erhielt außerdem eine Bauchtasche, in der man seine Wertsachen aufbewahren konnte. Perfekt dachte ich, so kann ich während des Experiments mein Handy bei mir tragen und ab und zu Fotos machen. In voller Montur gesellte ich mich zu den anderen Teilnehmer:innen ins Foyer, wo der baumelnde Sandsack bereits auf uns wartete. Nun stand als erstes die Kalibrierung der Sensoren auf dem Programm, die während des Experiments immer mal wieder durchgeführt werden musste. Sie ist wichtig, damit die Bewegungserfassung der Anzüge korrekt ist. Anschließend teilten wir uns in zwei gleich große Gruppen auf, wobei eine Pause machen durfte und zuschaute, so auch ich. Als ich mich an die Seite stellte und die andere Gruppe beobachtete, konnte ich ungefähr erahnen, was gleich auch auf mich zukommen würde. Schlagartig war ich gar nicht mehr so vorfreudig.

Sandsack löst Dominoeffekt aus

Die zehn Proband:innen mussten sich hintereinander mit dem Rücken zum Sandsack aufstellen. Und während sie das Alphabet rückwärts aufsagen sollten, schwang ein Mann den Sandsack erst sanft und dann immer heftiger gegen die letzte Person in der Reihe. Bei den Teilnehmenden konnte man einen abgeschwächten „Dominoeffekt“ beobachten, ohne dass jedoch einer/eine von ihnen umkippte. Die Reihenfolge der Teilnehmenden wurde von Zeit zu Zeit gewechselt und sie rückten näher zusammen. Die Stärke der Stöße variierte, so dass auch der Dominoeffekt manchmal zu- und manchmal abnahm. Oftmals taumelten die Personen die nah am Sandsack standen ziemlich heftig, vorne aber passierte wenig bis gar nichts.

Als meine Gruppe an die Reihe kam, stellte ich mich im ersten Durchgang recht weit nach vorne, um nicht direkt die geballte Kraft des Sandsacks in meinem Rücken zu spüren. Und das war auch gut so: Das Alphabet rückwärts aufzusagen und eine entspannte Körperhaltung einzunehmen fiel mir schwer. Ich war schnell verkrampft, was vielleicht auch daran lag, dass ich direkt in einem der ersten Durchläufe mit meinem Kinn auf eine kleinere Teilnehmerin vor mir traf. Ich konnte zwar weitermachen, war jetzt aber vorsichtig. Da wir alle unterschiedlich groß waren, gab es auch große Unterschiede in der Wirkung des Sandsacks: Wenn der Sandsack zuerst eine größere und schwere Person traf, war der Dominoeffekt viel stärker als bei kleineren bzw. leichteren Personen.

Macht euch bereit für den Stoß

Ich muss aber sagen, dass die Teilnehmenden wirklich alle sehr hilfsbereit und aufmerksam zueinander waren. Wenn eine größere und stärkere Person hinter mir oder jemand anderen stand, hat diese einen an den Schultern festgehalten, damit man nicht stürzt und sich nicht verletzt, aber natürlich auch um sich selbst zu bremsen. Ich war wirklich ziemlich froh, den Sandsack nie direkt im Rücken gespürt zu haben, denn ich hatte wirklich Respekt davor. Bei einem Durchgang bat ich sogar einen Teilnehmer meinen Platz direkt am Sandsack einzunehmen, da ich zu verkrampft war. Als dieser den ersten Stoß in den Rücken traf fragte ich unter mitleidigem Lachen „Alles gut?“, da er etwas verzweifelt aussah. Er lachte nur und sagte „Jaja, du hast es gut da!“. Ich konnte meine Reaktion auch bei den anderen beobachten. Ich würde es nicht als Panik bezeichnen, aber man konnte eine gewisse Angespanntheit und Ängstlichkeit vernehmen. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass viele der Teilnehmenden auf die Aufforderung „Macht euch bereit für den Stoß, er kommt innerhalb der nächsten Minute“, die Hände nicht entspannt baumeln ließen, sondern diese verkrampft an den Rücken der vorderen Person legten, um nicht so plötzlich und heftig gestoßen zu werden. Die Forschenden waren sich dessen auch bewusst und versicherten uns erneut, dass wir ihnen jederzeit Bescheid sagen könnten, wenn wir uns unwohl fühlten und aussteigen wollten. Es blieben jedoch alle dabei.

Ich glaube, das Unangenehmste an dem Experiment war nicht der Stoß selbst, der gar nicht so hart war, sondern, dass man nach vorne blicken sollte und nie sehen konnte, wann der Sandsack kommt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich damit solche Probleme haben würde, denn ich würde mich weder als ängstlichen noch klaustrophobischen Menschen bezeichnen.

Über die anschließende Pause, in der wir belegte Brote, Süßigkeiten und Wasser bekamen, war ich dann sehr dankbar. Es wurde sowieso ziemlich gut auf uns aufgepasst.

Fast wie beim Teamsport-Event

In dem nun folgenden zweiten Teil des Experiments, bei dem diesmal sogar ein paar Verantwortliche von CrowdDNA mitmachten, mussten wir uns erneut in zwei Gruppen aufteilen. Drei Personen aus jeder Gruppe erhielten Boxmatten und stellten sich jeweils gegenüber, die anderen Gruppenmitglieder positionierten sich hinter ihren Mattenträgern. Mithilfe ihres Körpergewichts drückte die erste Reihe ihre eigenen Matten gegen die Matten der gegnerischen Gruppe. Ich als eine Person in der zweiten Reihe musste versuchen, den Druck der vorderen Personen mit Matte zu verstärken, wozu wir mal einen Ausfallschritt machen durften und mal nicht. Die Konstellationen haben sich auch mal verändert aber grundsätzlich ging es darum, dass viel Kraft im Einsatz ist und ich muss sagen, dass es wirklich Spaß gemacht hat. Man entwickelte schon früh einen Teamgeist mit seiner Gruppe, arbeitete zusammen, feuerte sich lautstark an und jubelte gemeinsam, wenn man die andere Gruppe wegschob und „gewann“. Ich habe dabei manchmal vergessen, dass ich Teil eines wissenschaftlichen Experiments war und hatte eher das Gefühl, an einem normalen Teamsport Event teilzunehmen.

Gegen sieben Uhr hatten wir es dann geschafft. Wir durften die Anzüge wieder abgeben, uns umziehen und verließen die Bergische Universität Wuppertal. Was ich aus meinem Tag des Drängelns für die Wissenschaft gelernt habe? Man kann die Sicherheit bei Menschenansammlungen gut planen, wenn man die Events im Voraus gründlich analysiert und die Teilnehmenden rücksichtsvoll agieren. Ich bin dankbar, den Tag mit CrowdDNA erlebt und einen kleinen Beitrag für die Wissenschaft geleistet zu haben. Außerdem habe ich nun ein paar Anekdoten übers Drängeln und Schubsen auf Lager und irgendwie bin ich auch ein wenig stolz über meine blauen Flecken – sie dienen schließlich der Verbesserung der Sicherheit auch eurer Konzerte, Festivals und co! 🙂

About Ann-Kathrin Braun

Ann-Kathrin Braun studiert im 4. Semester Kommunikationswissenschaften an der UvA in Amsterdam. Von April bis Juli 2022 absolviert die 22 Jährige ein Praktikum in der Unternehmenskommunikation am Forschungszentrum Jülich.

2 Responses to “Einen Tag schubsen für die Wissenschaft: Wie ich an einem wissenschaftlichen Großexperiment teilgenommen habe”

  1. Bert Bender

    Hallo Anka, das ist eine sehr anschauliche Beschreibung des gesamten Tages mit den verschiedenen Gruppenexperimenten, Ich hab den Bericht mit viel Interesse gelesen. LG Bert

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