Die Papierindustrie zählt zu den wirtschaftlich wichtigsten und zugleich traditionellsten Branchen im Rheinischen Revier. Mit der Modellfabrik Papier wurde Ende 2020 eine neuartige Forschungsgesellschaft in der Papierstadt Düren gegründet. Im Interview erklärt Geschäftsführer Peter Bekaert, wie die vom Green Deal geforderten Klimaziele der Branche bis 2050 erreicht werden können. Darüber hinaus werden komplett neue, disruptive Ansätze entwickelt, bei der vor allem lokale, biogene Rohstoffe zum Einsatz kommen.
Herr Bekaert, was kann man sich unter einer „Modellfabrik für Papier“ vorstellen?
Die Idee zur Gründung einer Modellfabrik Papier entstand 2018 bei einem Treffen von Unternehmen der Papierbranche mit der Technischen Universität (TU) Darmstadt und der Papiertechnischen Stiftung (PTS) Heidenau bei Dresden. Zentrale Frage war, wie sich die Herausforderungen der Klimaziele von Paris, die eine Reduktion der Emissionen, sprich alle Treibhausgase auch durch die Industrie auf null erzielen, in Verbindung mit einer Energieeinsparung und mehr Nachhaltigkeit erreichen lassen? Es folgten die Festlegung der Forschungsschwerpunkte, die Standort-Entscheidung für Düren und schließlich im Dezember 2020 die Gründung einer gemeinnützigen Forschungsgesellschaft mit zunächst 15 Unternehmen aus der Papierbranche.
Vor welchen Herausforderungen steht die Papierbranche im Hinblick auf Klimawandel und Weltmarkt?
Die jüngsten Klimakatastrophen, steigende Energie- und CO2-Preise zwingen die deutsche Papierindustrie zum Handeln, sonst droht die Abwanderung in außereuropäische Regionen mit geringeren Energie- und CO2-Kosten. Das wollen wir vermeiden: die Papierindustrie in Deutschland soll nachhaltig sein und die Arbeitgeber hier bleiben können.
Mit einer Recyclingquote von 79 % steht die deutsche Papierindustrie an der Spitze. Sie ist damit ein Musterbeispiel für nachhaltige Kreislaufwirtschaft. Beim Energieverbrauch jedoch liegt sie mit 6,7 % auf Platz 5 der deutschen Industrie, was indirekt einen hohen CO2 Ausstoß bedeutet. Durch Modernisierungsmaßnahmen konnte der CO2-Wert von 1995 bis 2018 um 36 % gesenkt werden. Dies entspricht einer Reduktion von 955 auf 610 kg CO2 je Tonne Papier. Doch das reicht bei weitem nicht aus, gefordert ist nach dem Deutschen Klimaschutzgesetz eine Reduktion und Kompensation bis auf null bis 2045. Mit der Modellfabrik Papier erzielen wir eine Reduktion des spezifischen Energieverbrauchs in der Papierfertigung um 80% und damit einen direkten Beitrag zu der emissionsfreie Papierfertigung.
Warum genau ist der Energiebedarf der Papierindustrie so hoch?
Die für die Papierherstellung benötigten Ressourcen sind Faserstoff, Füllstoffe und Additiven als Rohstoffe, Wasser, das im geschlossenen Kreislauf geführt wird und Energie. Das Material, das auf die Papiermaschine aufgezogen wird, hat 1 % Feststoff. Der Rest ist Wasser, das wieder aus der Bahn herausgezogen wird. Die Papiertrocknung ist äußerst energieintensiv.
Wer sind die Unterstützer der Modellfabrik Papier und wie können sie zum Erfolg der Modellfabrik beitragen?
Die Unterstützer sind die inzwischen 17 Mitgliedsunternehmen, die das komplette Branchenspektrum mit den Bereichen Hygienepapier, Karton, Wellpappe, Spezialpapiere abdecken und die Zulieferindustrie. Am Papierstandort Düren sind vier lokale Unternehmen ansässig: Schoellershammer, die Niederauer Mühle, Kanzan und der Papiermaschinenhersteller Voith.
Zum anderen ist die Wissenschaft beteiligt: die TU Darmstadt und die PTS, die von Anfang dabei waren. Außerdem die Fachhochschule Aachen mit dem Institut NOWUM-ENERGY, das Institut für Textiltechnik ITA der RWTH Aachen, das Forschungszentrum Jülich mit dem Beitrag zur Bioökonomie und die Technische Universität Dresden. Das heißt, wir sind fachlich breit aufgestellt bei den Themen Energieressourcen, Digitalisierung und Bioökonomie. Die Modellfabrik Papier steht für die Verzahnung von Wissenschaft und Industrie und lebt von den Erfahrungen aus der Unternehmenspraxis.
Ein weiterer starker Partner ist die Wirtschaftsförderung der Stadt Düren, WIN.DN, die zugleich als Bauherr auftritt. Und der Branchenverband DIE PAPIERINDUSTRIE und die Confederation of European Paper Industries CEPI. Wir erfahren breite Unterstützung und sind offen für weitere Beteiligungen, vor allem aus der Region – zum Beispiel bei Vernetzungsprojekten, die in Kürze starten.
Was passiert zur Zeit in der Modellfabrik und was sind Meilensteine?
Direkt nach der Gründung im Mai 2021 haben wir mit dem „Roadmap Prozess“ ein erstes Forschungsprojekt gestartet. Hier werden konkrete Forschungsschwerpunkte ergebnisoffen identifiziert, von denen wir uns eine Verbesserung oder Neuorientierung der Prozesse in der Papierproduktion versprechen. Arbeitsgruppen durchleuchten die Themenfelder Rohstoffe, Prozesse & Verfahren, Digitalisierung, Gesamtsystem &Energie sowie Bioökonomie. Die Ergebnisse werden in einem Whitepaper zusammengeführt und bilden die Grundlage für die Strategie der nächsten Jahre. Mit den erfolgversprechendsten Forschungsideen starten wir demnächst konkret in die Umsetzung.
Mit unserer neuen Webseite und dem Einzug in unseren Interimsstandort sind wir jetzt in Düren vor Ort präsent. Ein weiterer Meilenstein wird der Bezug des transparenten Neubaus voraussichtlich Ende 2024 sein. Hier entsteht ein ikonisches Projekt, ein neues Wahrzeichen am Bahnhof mitten in Düren. Wir werden dort mit Technologieträgern gemeinsam in einer modernen, attraktiven Produktionshalle arbeiten. Die Papierfabrik wird Teil des neuen grünen Bahnhofsquartiers sein, ein inspirierender Ort mit verschiedenen Innovationsprojekten und Firmen – und sicher das spektakulärste Projekt des Innenstadt-Masterplans der Stadt. Die Modellfabrik Papier ist eine großartige Gelegenheit, die Wertschätzung von Papier weit über die Region hinaus zu stärken.
Zellstoff: Rohstoff für die Papierherstellung
Was hat die Papierherstellung mit Bioökonomie zu tun? Wo sind Schnittstellen?
Kreislaufwirtschaft: Eine starke Schnittstelle bezieht sich auf die Kreislaufwirtschaft. Mit einer Recyclingquote von knapp 80 % ist die Papierbranche Vorbild für die gesamte deutsche Industrie. Papierfasern werden bis zu siebenfach wiederverwendet. Diese Quote sollte erhalten und kann gegebenenfalls erhöht werden.
Rohstoffe: Eine weitere Schnittstelle stellen die biogenen, nachwachsenden Rohstoffe dar. Die Papierindustrie arbeitet teils heute schon mit lokal produzierten Rohstoffen. Hier stellt sich die Frage, ob sich weitere Rohstoffe eignen? Sie sollten die gleichen Eigenschaften haben wie Papier, also nachhaltig und biogen sein und lokal wachsen können. Neben Holz, Gras oder Stroh kann die Bioökonomie weitere Möglichkeiten finden, den kompletten CO2-Abdruck vom Wachstum der Faser über die Weiterverwertung bis zum Einsatz in der Papierfertigung zu betrachten. Denn teilweise werden immer noch Rohstoffe aus nicht europäischen Ländern eingesetzt. Ein vielversprechender Ansatz ist zum Beispiel die Extraktion von Cellulose aus einjährigen Pflanzen.
Reststoffe: Beim Thema Reststoffe gibt es eine dritte Schnittstelle: lassen sich diese sinnvoll weiterverwenden, in der eigenen Branche oder etwa in Kreisläufen anderer Sektoren? Man spricht hier von Sektorenkopplung. Umgekehrt können wir schauen, ob sich Reststoffe aus anderen Industrien für die Papierherstellung eignen.
Energie: Schließlich gilt das bioökonomische Prinzip auch für nachhaltige Konzepte der Energieversorgung und deren Kombination mit Bedarfen anderer Industrien. Restwärme aus der Papierherstellung könnte dann beispielsweise für andere Zwecke wiederverwendet werden.
Herr Bekaert, welche Erwartungen haben Sie an die Strukturwandelinitiative BioökonomieREVIER?
Die Modellfabrik beleuchtet Papier als Gesamtsystem. Entscheidend für den Erfolg ist daher die Expertise unterschiedlichster Bereiche. BioökonomieREVIER spielt eine wichtige Rolle bei der Vernetzung lokaler Akteure, hat daher die für uns passenden Kontakte und kann relevantes Wissen aus der Bioökonomie einbringen. Hier erfahren wir, welche anderen Sektoren an ähnlichen Themen arbeiten, wie diese Fragestellungen lösen und wie man Prozesse sinnvoll koppeln kann. Der Strukturwandel betrifft Viele und hat Einfluss auf weitere Industrien. Dies sorgt teils für komplett neue, disruptive Prozesse. BioökonomieREVIER kann die Lerneffekte darstellen und sicherstellen, dass sich andere Bereiche mit ihren Themen einbringen. Dies bringt dann die Modellfabrik weiter und ist schließlich gewinnbringend für alle Branchen.
Die Papierindustrie ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Welchen Vorteil hat die Region von einer Modellfabrik für Papier?
Dieses neuartige, weltweit einzigartige Kompetenzzentrum für Papierforschung wird ein neuer Anziehungspunkt für Düren: es wird andere Universitäten, andere Menschen nach Düren ziehen. In Kombination mit den Papierunternehmen und dem Papiermuseum mit seiner Historie wird der Name Dürens als Papierstadt sich überregional und international weiter etablieren. Das neue Wissen, dass in Düren entsteht, hat das Potenzial für einen erfolgreichen Strukturwandel und kann als Exportschlager weit über die europäischen Grenzen hinaus zum Vorbild werden.
Die Modellfabrik Papier leistet einen Beitrag, dass die Papierindustrie nachhaltig wird. Dadurch kann sie in der Region als attraktiver Arbeitgeber bleiben. Nicht zuletzt geht es um die Verstetigung der Branche: rund 10.000 Beschäftigte im Raum Düren sind heute direkt oder indirekt von der Papierproduktion abhängig. Wir sprechen gerne von disruptiven Ansätzen. Dies mag sich für manche unterbrechend oder befremdlich anhören. Das wollen wir nicht. Im Gegenteil bringen wir viel Wertschätzung für bereits erfolgte Anstrengungen der regionalen Unternehmen, Energie zu sparen und effizienter zu werden. Hier wollen wir anknüpfen und die Industrie für die Zukunft bereit machen. Letztlich werden wir selbst als regionaler Arbeitgeber tätig. Ich plane mit circa 25 Mitarbeiter*innen in der Modellfabrik Papier, davon 80 % forschende Mitarbeiter*innen.
Ein Blick in die Zukunft, Herr Bekaert: wie wird die Papierproduktion in 20 Jahren aussehen?
Aus der Perspektive der traditionellen Papierfertigung gesehen erwarte ich einen deutlichen Schritt in Richtung Zukunft mit effizienteren Technologien, Energieversorgungskonzepten und Anlagen, die CO2-frei und nachhaltig arbeiten.
Visionär geschaut sehe ich eine Revolution in der Papierfertigung, einen komplett neuen, disruptiven Ansatz mit ausschließlich lokalen, biogenen Rohstoffen, die kaum noch Wasser benötigen und die mit maximal 20 % des Energiebedarfs von heute auskommen.
Das Interview führte Anke Krüger, Strukturwandelinitiative BioökonomieREVIER
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