Der Strukturwandel im Rheinischen Revier ist eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen – nicht nur für die rheinische Braunkohle-Region, sondern für ganz Nordrhein-Westfalen. Das Forschungszentrum Jülich möchte zur erfolgreichen Gestaltung dieses Wandels einen wichtigen Beitrag leisten.

Was kommt nach der Braunkohle? Wie können die hochwertigen Arbeitsplätze in der Region gehalten und zugleich neue geschaffen werden? Und welche Rolle spielen Wissenschaft und Forschung in diesem Prozess, der die Identität der heutigen Braunkohle-Region rund um Jülich gravierend verändern wird?

Lesen Sie hierzu einen Beitrag von Prof. Wolfgang Marquardt, dem Vorstandsvorsitzenden des Forschungszentrums Jülich.

Von Wolfgang Marquardt

Prof. Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich Bild: FZJ / R.-U. Limbach

Das Rheinische Braunkohlerevier, in dessen Kern das Forschungszentrum Jülich liegt, steht vor großen Veränderungen. Die Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung der Bundesregierung hat einen Pfad aufgezeigt, wie Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Sozialverträglichkeit beim Ausstieg aus der Kohleverstromung gelingen können. Dies ist eine große Herausforderung und zugleich eine große Chance.

Wenn der Strukturwandel nachhaltig erfolgreich sein soll, muss das Rheinische Revier mittelfristig reindustrialisiert werden. Zahlreiche Arbeitsplätze werden wegfallen und müssen durch eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze mit einem breiten Spektrum von Qualifizierungsprofilen ersetzt werden. Menschen mit den verschiedensten Ausbildungsabschlüssen und Lebensentwürfen sollen auch zukünftig eine gute Perspektive im Rheinischen Revier haben.  

Damit dies gelingt, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Wir brauchen eine leistungsfähige und moderne Infrastruktur, digital und verkehrstechnisch. Diese Infrastruktur ist Grundlage und Ermöglicher für Vieles.
  2. Die reichhaltige Industrielandschaft im Rheinischen Revier muss sich transformieren, neue Geschäftsfelder erschließen und wachsen.
  3. Es muss gelingen, neue Unternehmen mit ganz neuen Wertschöpfungsketten hier anzusiedeln.

Zu allen drei Punkten kann die außergewöhnlich vielfältige und leistungsstarke Wissenschafts- und Forschungslandschaft im Rheinland einen elementaren Beitrag leisten. Dabei wird es unerlässlich sein, die Kräfte auf einige wenige, strategische Handlungslinien zu fokussieren, die sich an den technologischen Mega-Trends orientieren und versprechen langfristig Wertschöpfung zu ermöglichen. Die Fragmentierung muss überwunden werden und die verschiedenen Akteure müssen gemeinsam mit ihrer jeweiligen Expertise in ausgewählten Handlungslinien zusammenwirken. 

Mobilitätswende und Energiewende miteinander verbinden

Der notwendige Ausbau der Infrastruktur im Rheinischen Revier muss mit zukunftsorientierten Technologien erfolgen, um gleichermaßen die Bedarfe der Region zu decken und die einzigartige Gelegenheit zu nutzen, die Verbindung von Mobilitäts- und Energiewende in einer Modellregion zu demonstrieren. Neue Antriebstechnologien und autonomes Fahren ermöglichen ganz neue Mobilitätskonzepte, die hier in die Anwendung gebracht werden müssen. Dabei können das Forschungszentrum Jülich und seine Partner mit ihrer Expertise, beispielsweise in den wasserstoff-basierten Technologien, der Batterietechnik oder in der Datenanalyse und Künstlichen Intelligenz konkrete Beiträge leisten.

Das Rheinische Revier ist fragmentiert und begreift sich noch nicht als eine gemeinsame Innovations- und Wirtschaftsregion. Diese Fragmente müssen zusammengebracht werden. Letztendlich bedeutet das die Notwendigkeit, kurze Wege zwischen funktional ausdifferenzierten Quartieren für Leben und Arbeiten, für Wissenschaft, Dienstleistung und Produktion zu schaffen. Dies wird nur durch den durchdachten und entschlossenen Ausbau der bestehenden Infrastruktur möglich sein. Dabei ist es wichtig, klare Prioritäten zu setzen und ein klares, ganzheitliches Raumbild vor Augen zu haben.

Neue Technologien für neue Wertschöpfungsketten

Auch bei der Transformation bestehender Industrien kann die Wissenschaft einen entscheidenden Beitrag leisten. Neue Technologien werden es ermöglichen, bestehende Produktionsstätten umzubauen, um eine neue, nachhaltige Nutzung unserer begrenzten Ressourcen zu ermöglichen. Beispielsweise durch die Umstellung von fossilen auf biogene Rohstoffquellen, oder den Einsatz neuer Power-to-X-Technologien. Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung, von einer umfassenden Sensorik, über die Handhabung der verfügbaren riesigen Datenmengen und der Künstlichen Intelligenz können bestehende Unternehmen in Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen transformieren und sie auf eine ganz neue Qualitätsebene bringen. So wird die Standortsicherung unterstützt, neue Geschäftsmodelle werden realisierbar, Wachstumsmöglichkeiten und neue Arbeitsplätze werden geschaffen.

Das größte Potential liegt aber vielleicht darin, wenn es uns gelingen sollte neue Unternehmen in der Region anzusiedeln. Das können zum einen Unternehmen sein, die sich bei der Suche nach einem neuen Standort auf Grund der hohen Innovationsdichte im Rheinischen Revier niederlassen wollen. Das können aber auch Unternehmen sein, die auf Grund einer disruptiven Veränderung, einer fundamentalen Umwälzung, entstehen. Wäre es zu Beispiel gelungen, das Grünberg-Patent hier in dieser Region in ein Unternehmen zu bringen, wäre das Rheinland heute führend in der Produktion von Speicherchips mit vielen tausend Arbeitsplätzen. Diese Disruptionen sind selten, aber sie sind eine Riesenchance, wenn es gelingt, sie nutzbar zu machen. Das neuroinspirierte Computing und das Quantencomputing sind Technologielinien, zu denen die Forschung in der Region sehr gut aufgestellt ist. Mittel- bis längerfristig zeichnen sich am Horizont neue Anwendungen und riesige Märkte ab. Solche Zukunftstechnologien bieten riesige Möglichkeiten. Es muss uns gelingen, einen Fuß in die Tür zu bekommen und neue Wertschöpfung vor der Haustür zu schaffen.

Schulterschluss von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist nötig

Es wird deutlich, welchen grundlegenden Beitrag die Wissenschaft zu einem gelingenden – einem wissenschaftsbasierten – Strukturwandel leisten kann und wird. Das allein wird aber nicht reichen. Damit der Strukturwandel erfolgreich verläuft, braucht es einen engen Schulterschluss aller Beteiligten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Dabei können wir auf tragfähigen und belastbaren Strukturen aufbauen und diese gezielt weiterentwickeln.

Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Wie also muss der politische Rahmen aus wissenschaftlicher Sicht gestaltet werden und welche Instrumente braucht es, um Wissenschaft und Wirtschaft effektiver zusammen zu bringen?

Soll der Strukturwandel gelingen, müssen die Förderbedingungen und die Förderinstrumente hochgradig flexibel sein. Wir brauchen barrierefreie Förderinstrumente, die es ermöglichen, verschiedene Akteure zusammen zu bringen. Wenn wir mit dem üblichen Regelwerk vorgehen, werden wir zu lange brauchen und nicht richtig weiter kommen.

Das Rheinische Revier muss für Menschen attraktiv werden. Sie brauchen eine gute Umgebung, ansehnliche Wohngebiete und herausragende Bildungseinrichtungen. Nur dann werden sie bleiben und das Revier als ihr neues Zuhause wählen.

Darüber hinaus brauchen wir schnell zuverlässige und einschätzbare Prozesse und daran angebundene Strukturen, die nicht nur beraten, sondern die Ideen anschließend auch umsetzen. Diese Akteure müssen schon bei den Beratungen mit an den Tisch, um die Machbarkeit direkt mitzudenken.

Es braucht Scharniere zwischen Wissenschaft und Wirtschaft

Ein wissenschaftsbasierter Strukturwandel braucht Scharniere zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Das können Reallabore, Demonstratoren, Maker Spaces, Technologie-Cluster, Gründeroffensiven und viele andere Maßnahmen sein.

Schon bei der Konzeption von Reallaboren und Demonstratoren muss die Wirtschaft eingebunden werden. Mit ihnen soll nicht nur gezeigt werden, dass wissenschaftsbasierte Innovationen wirklich funktionieren, sondern sie müssen so beschaffen sein, dass Unternehmen ihre eigene Produktentwicklung dort durchführen kann, dass sie Produkte erproben und ausprobieren können. Maker Spaces sind Orte, an denen Wissenschaftler selbst zu Entrepreneuren werden oder sie mit Entrepreneuren zusammenkommen um Neues zu schaffen, innovative Geschäftsmodelle, Dienstleistungen und Produkte. Sie haben etwas von Tüftlergaragen, sind aber für die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Gründern und Unternehmern von großer Bedeutung. Sie sind ein Ort der Begegnung, an dem nicht nur neue Ideen entstehen, sondern diese direkt umgesetzt und ausprobiert werden können. Technologie-Cluster sind Strukturen, in denen verschiedenen Akteure mit ihren spezifischen Expertisen thematisch orientiert zusammenkommen. Mit einer Gründeroffensive sollten wir für das Unternehmertum und Unternehmensgründungen werben. Hier ist in den vergangenen Jahren vieles getan worden, aber wir können noch viel tun, um eine Aufbruchsstimmung zu den Menschen zu bringen, die als Unternehmer tätig werden wollen.

Das Forschungszentrum Jülich als eines der großen interdisziplinären Forschungseinrichtungen Deutschlands und Europas mit seinen etwa 6000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern steht bereit, seinen Beitrag für einen gelingenden Strukturwandel zu leisten. Wir stellen uns gerne dieser spannenden Aufgabe.


Dies ist eine Zusammenfassung des Beitrags von Prof. Wolfgang Marquardt bei der Anhörung „Rheinisches Revier“ des Ausschusses für Wirtschaft, Energie und Landesplanung des Landtags von Nordrhein Westfalen am 13.02.2019. Seine Stellungnahme, die den Abgeordneten im Vorfeld der Anhörung zur Verfügung gestellt wurde, finden sie unter: DIE VERANTWORTUNG DER WISSENSCHAFT FÜR EINEN GELINGENDEN STRUKTURWANDEL IM RHEINISCHEN REVIER (PDF-Dokument)

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