Über den „Mittelbau“ im Forschungszentrum zu schreiben, ist ein Wagnis. Wie dessen Geschichte auf ein paar Seiten abhandeln, wo dieses Thema Monografien benötigte, um bis in die Tiefe ausgeleuchtet zu werden? Würde dies getan, wir wüssten nicht nur mehr über „Jülich“, über weite Teile der Forschung und Entwicklung, wir könnten auch analysieren, wie gesellschaftliche Umbruchszeiten sich auf ein Forschungszentrum auswirken. Eine solche Umbruchszeit waren die 1960er Jahre. Zu dieser Zeit bildete sich eine eigene Vertretung des Mittelbaus heraus.
Was bedeutet „Mittelbau“? Es handelt sich um Postgraduates vom Doktoranden bis zum Wissenschaftler unterhalb der Institutsleiter-Ebene. Halten wir uns an diese Definition, dann war der Nobelpreisträger Peter Grünberg[1] zur Zeit seiner bahnbrechenden Entdeckungen Angehöriger des Mittelbaus.
Wenn wir in historischer Perspektive vom „Mittelbau“ sprechen, dann muss von einem Durchsetzungskampf die Rede sein, den es in allen bundesdeutschen Forschungszentren und Universitäten gegeben hat. Er war gerichtet gegen autoritäre Institutsleiter und C 4-Ordinarienherrlichkeit. In Jülich begannen die Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre.
Damit kommt „1968“ ins Spiel. Diese Bewegung feiert 2018 ihr fünfzigjähriges Dienstjubiläum. An Tagungen und Publikationen wird es nicht fehlen. Der „1968er“ wird euphorisch oder gleichsam mit spitzen Fingern gedacht.
Gab es in Jülich ein „1968“, oder handelte sich bei der „Studentenbewegung“[2] nur um einen Aufstand outrierter Germanistik-, Politologie- und Soziologiestudenten, wie man gespottet hat? Antwort: Auch Jülich hatte sein „1968“, allerdings ohne sich revolutionär gebärdenden „Kinderradikalismus“, um eine Formulierung Lenins zu variieren. Zitat aus dem Protokoll einer Jülicher Mittelbauer-Versammlung, September 1969: „Nicht Revolution sei das Ziel, sondern Evolution.“
Warum „1968“ in Anführung? Der Schwerpunkt von „1968“ lag nicht im Jahre 1968, sondern in den Jahren 1966 und 1967. Wahrscheinlich gaben sich die „1968er“ ihren Namen in Anlehnung an die „1848er“. Und was haben wir unter dem Projekt „1968“ zu verstehen? Da stellen wir und ganz dumm und sagen: Abflachen von Hierarchien, Teilhabe an Entscheidungen, Diskussion, Demokratisierung.
„Diskussion“ und „Demokratisierung“ waren Kampfbegriffe jener Jahre. Mit Untergeordneten zu diskutieren, war der Leiter und Direktoren Sache nicht. Sie sprachen sogar geringschätzig von jemandem, der „gerade mal zwei Jahre habilitiert“ sei. Was sollte „Demokratisierung“ im Wissenschaftsbereich heißen? Wir werden darauf zurückkommen.
Wenn wir ein krasses Bild der autoritären Strukturen jener Jahre gewinnen wollen, sozusagen einen Idealtypus, so können wir auf die Darstellung der Verhältnisse in einem anderen Großforschungszentrum zurückgreifen, dessen Namen der Verfasser gerade vergessen hat:
„Geschäftsführer und Institutsleiter, unter denen wiederum die Professoren sich bis vor kurzem zum Unterschied gegenüber den Institutsleitern ohne Lehrstuhl gern ‚Direktoren‘ nannten, bilden eine geschlossene Kaste. Sie essen in einem eigenen Kantinen-Saal und treffen sich – mit anderen (…) Honoratioren – in einem Klub, in dem angestellte und auch auswärtige Physiker seltener gesehen werden.“[3]
Man fühlt sich an den schrecklichen Fauxpas von Max Dessoir (1867 – 1947) erinnert, dem Wahrnehmungspsychologen und Theoretiker der Ästhetik an der Berliner Universität: Aus Versehen öffnete der damals noch „Außerordentliche“ Professor die Tür des Senatssaals, worin gerade Fakultätssitzung zelebriert wurde. Der Dekan sah Dessoir mit solch entsetzten Augen an, als sei ein Heiligtum geschändet worden.[4]
Aber zurück zu unserer Fragestellung nach „Mittelbau“ und „1968“ in den Forschungszentren. Für ein entschiedenes Entgegenkommen seitens der Großforschungseinrichtungen sprach sich Wolfgang Cartellieri (1901 – 1969) aus. Dieser liberale Mann war unter den Staatssekretären des Bundesministeriums für Wissenschaftliche Forschung und weiterer Vorgängerhäuser des heutigen BMBF einer der bedeutendsten. Von ihm stammt die über Jahre richtungsweisende Schrift „Die Großforschung und der Staat“. Bei der Abfassung hat ihm ein späterer Stellvertretender Jülicher Vorstand sehr gute Dienste erwiesen …
Cartellieri also schrieb 1969 an den Chef eines Forschungszentrums über den dortigen Ärger mit dem Mittelbau und das schlechte Betriebsklima: Man hätte seinen Vorschlägen vom Sommersemester 1968 folgen und jüngere verdiente Mitarbeiter in den Wissenschaftlichen Rat aufnehmen sollen. Dies sei von den Institutsleitern aber verhindert worden. Viel Ärger wäre erspart geblieben, so Cartellieri. Über die „1968er“ bemerkte er, es sei vorauszusehen gewesen, „dass die Bewegung an den Hochschulen vor den Toren der Forschungszentren nicht haltmachen“ werde. Das war gut gesehen.
In institutionengeschichtlicher Hinsicht begann die „Bewegung“ in Jülich aber in der Tat 1968. Am 05.04.1968 fand die konstituierende Sitzung der „Vertretung der Wissenschaftler“ (VdW) statt. Deren Entstehung ist ohne den Verband der Wissenschaftler an Forschungsinstituten e. V. (VWF) nicht zu denken. Mit 150 Mitgliedern im Jahre 1970 stellte der Jülicher VWF nach Karlsruhe die zweitgrößte Gruppe. Die führenden Mittelbauvertreter waren vielfach im VWF organisiert. Der VWF setzte sich für Mitbestimmung ein, für Gleichberechtigung in den Instituten, für Institutsverfassungen, dafür, dass Forschungsergebnisse der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden müssten, dafür, dass Angehörige des Mittelbaus in den Wissenschaftlichen Räten vertreten sein sollten und schließlich gegen den übermäßigen Einfluss des Staates auf die Forschung. Zur Genderfrage[5] finden wir in den zahllosen Verlautbarungen kein Wort. Wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) hatte man Gleichberechtigungsfragen, die „Frauenfrage“, einfach nicht auf dem Schirm.
In der konstituierenden Sitzung der Vertretung der Wissenschaftler (VdW) am 05.04.1968 ging es um Geschäftsordnungsdingen, und danach ging es schnell voran. Noch 1968 befürwortete der Wissenschaftliche Rat (WR) der Anlage (ab 1972 Wissenschaftlich-Technischer Rat) den Vorschlag zur Mitwirkung wissenschaftlicher Mitarbeiter. Dieser Vorschlag wurde von Rudolf Schulten aufgenommen, dem WR-Vorsitzenden und Vater des AVR-Kugelhaufenreaktors, und nach einigem Abwehrargumenten (der Wissenschaftliche Rat sei ohnehin zu groß etc.) befanden sich fünf Vertreter der VdW in diesem Gremium, freilich ohne dass ihnen volle Mitwirkungsrechte zugebilligt wurden. Mitte 1969 schlug Schulten vor, den Mittelbau noch stärker an der Arbeit der WR-Hauptkommission zu beteiligen.
Wie weit die Entwicklung vorankam, zeigt ein Blick in das Protokoll der Sprecherversammlung vom April 1990, als der Vorstandsvorsitzende Joachim Treusch regelrecht in die Mangel genommen wurde.
Vom Protokoll der „Sprecherversammlung“ war soeben die Rede. Wie fast alles im Forschungszentrum hat auch die Mittelbauvertretung mehrfach den Namen gewechselt. Die „Vertretung der Wissenschaftler“ (VdW) firmierte ab 1972 als „Sprecherrat“ und ab 1973 (bis heute) als „Sprecherversammlung“. Diesen Namen hatte der Bonner Ministerialrat Schlephorst vorgeschlagen, Mitglied des Aufsichtsrats. Als Jurist kannte er die rechtlich-formalen Aspekte des Gesellschaftsvertrages aus dem Effeff: Die Bezeichnung „Rat“ dürfe nur von im Gesellschaftsvertrag fixierten Organen geführt werden. Also statt „Sprecherrat“ ab nun Sprecherversammlung. Die Jülicher Sprecherversammlung kann insofern auf fünfzig Jahre ihres Bestehens zurückblicken. Am 05.04.2018 wird es diesem Grund eine Feierstunde geben, bei der eines der letzten noch lebenden Gründungsmitglieder eine Rede halten wird.
Widerstehen wir der Versuchung, in erschöpfende Details zu gehen, um die Leser nicht zu erschöpfen. Stattdessen sollen zwei paradigmatische Auseinandersetzungen der Mittelbauvertretung mit der Spitze des Zentrums sowie mit den leitenden Wissenschaftlern skizziert werden: die ausgesprochen kritische Distanz gegenüber dem 1969 ernannten Juristisch-kaufmännischen Vorstandsmitglied sowie den so genannten „Vergreisungsausschuss“. Zum Schluss werfen wir einen Blick auf die Jülicher Doktoranden, die das Vergreisungsargument dankbar aufnahmen.
Der Nachfolger Alexander Hockers, des ersten Juristisch-kaufmännischen Geschäftsführers in Jülich, wurde vom Mittelbau nicht akzeptiert. Wegen der Entlassungsumstände wurde sogar eine Art Protestbrief an Forschungsminister Stoltenberg geschrieben. Im Übrigen stieß der neue Geschäftsführer Hans Slemeyer auf wenig Gegenliebe, weil er im Geruch stand, Demokratisierungsbestrebungen der Mittelbau-Wissenschaftler abzulehnen. Im Dezember 1969 sah sich Slemeyer genötigt, Passagen im Protokoll einer Sitzung des Mittelbaus richtigzustellen, an der er teilgenommen hatte. Slemeyer schrieb, er sei der Auffassung, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiter in hohem Maße über Kenntnisse verfügten, die vom Forschungszentrum genutzt werden müssten. Er sei überzeugter Demokrat; autoritäre Strukturen müssten soweit wie möglich abgebaut werden und das Ziel müsse eine „echte gesellschaftliche“ Emanzipation der gesellschaftlichen Subsysteme sein. Slemeyer hatte damit Kernbegriffe und Parolen der „1968er“ geschickt aufgenommen: Kampf gegen autoritäre Strukturen, Emanzipation, „Subsysteme“ als zeitgenössischer Soziologismus. Aber dann ging er zur Attacke über. „Demokratisierung“ sei ein Begriff aus dem politischen Raum, der sich nicht ohne weiteres auf Entscheidungen im Forschungsbereich übertragen lasse. Im politischen Raum würden demokratische Mehrheitsentscheidungen getroffen, und jeder Staatsbürger habe ohne Unterschied eine Stimme. Im Forschungsbereich dagegen komme es auf sachgerechte Entscheidungen an, die von sachkundigen Wissenschaftlern getroffen werden müssten. Das hatte gesessen. Slemeyer hatte den Begriff „Demokratisierung“ eingeschränkt – anderthalb Monate nach Willy Brandts berühmter Regierungserklärung mit dem Kernsatz „Will wollen mehr Demokratie wagen!“
Willy Brandt Regierungserklärung findet sich im Volltext in den Unterlagen der Mittelbau-Vertretung. In der Regierungserklärung hieß es auch:
„Für Hochschulen und staatliche Forschungseinrichtungen müssen wirksame Vorschläge für die Überwindung überalterter hierarchischer Formen vorgelegt werden. Soweit der Bund vorwiegend betroffen ist, werden entsprechende Maßnahmen beschleunigt getroffen.“
Die Überalterung hierarchischer Formen wurde vom Jülicher Mittelbau mit der Überalterung der Wissenschaftler in Verbindung gebracht oder einfach gleichgesetzt. Die Überalterungsfrage war ein Giftpfeil im Köcher des Mittelbaus. Was soll ein Alter sagen, wenn man ihm sagt, dass er zu alt sei?[6] Das Thema kam in der 9. Sitzung der Mittelbauvertretung auf den Tisch. Überalterung wurde als großes Problem in der damaligen KFA angesehen: Immobilität, Kreativitätsabnahme, Krankheitszunahme. Allerdings wusste man keine genauen Zahlen und bildete daher einen Ausschuss, um sie zu ermitteln; ferner sollten „Vorschläge für eine künftige Verwendung älterer wissenschaftlicher Mitarbeiter“ überlegt werden.
In der Diskussion wurde festgehalten, „dass die angebliche (sich in Ideenverarmung äußernde) Überalterung in der Forschung aktiv tätiger Wissenschaftler alles andere als eine hundertprozentig bewiesene Tatsache“ sei. Neben dieser Protokollspassage die handschriftliche Bemerkung: „bravo“. Aber die Sache mit der Überalterung hatte noch einen weiteren sehr handfesten Aspekt: Gehe man nämlich von der Überalterung aus, so wurde argumentiert, dann müssten die jüngeren Wissenschaftler in der Zeit ihrer höchster Leistungsfähigkeit auch besser bezahlt werden, anstatt sie mit Gehaltssteigerungen zu vertrösten, die erst im Alter wirksam würden.
Die Jülicher Doktoranden waren die aktivste Mittelbauergruppe. Sie veranstalten „Hearings“, verteilten vor Aufsichtsratssitzungen Flugblätter und wiesen darauf hin, dass im Forschungszentrum 4.000 Mitarbeiter angestellt seien, die Doktoranden aber die eigentliche Forschungsarbeit leisteten. Bekanntlich sei die kreative Phase des Menschen mit 35 ja ohnehin beendet und man beginne dann, auf die Rente zu warten. Wer also den Jülicher Doktoranden eine bessere Bezahlung verweigere, der schaufele kräftig mit am Grab der deutschen Großforschung. Die Doktoranden forderten u. a. die Einstufung in den Bundesangestelltentarif (BAT) und ein Gehalt der Tarifklasse BAT I b, was heute in etwa E 14 entspricht. Dies wurde nicht durchgesetzt, aber die Forderung entbehrte nicht der sachlichen Grundlage, denn in den Zeiten radikaler Haushaltskürzungen wurden Doktoranden verstärkt zur wissenschaftlichen Arbeit herangezogen.
Seit Ende der 1980er Jahre ist in den meisten Aufsichtsrats- und Vorstandssitzungen vom wissenschaftlichen Nachwuchs, von Doktoranden und Doktorandenförderung die Rede.
[1] Siehe in diesem Blog: „G“ = „Giant Magnetoresistance“ (GMR) / „Riesenmagnetowiderstand“.
[2] Siehe dazu das Kapitel „Studentische Bewegungen“ in: Walter Rüegg, Hg., Geschichte der Universität in Europa, Band IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, S. 249 – 282. ZB-Signatur A ET 7-4.
[3] Dieses Beispiel wird hier nicht gewählt, um sich an der Jülicher Problematik herumzuschreiben. Aber für eine derartig trennscharfe Abgrenzung zwischen Ordinarien und Mittelbauern findet sich in den Jülicher Archivbeständen keine Parallele. In diesem Zusammenhang ist (im Anschluss an Max Weber) vom Idealtypus die Rede.
[4] Max Dessoir, Buch der Erinnerung, Stgt. 1946, S. 185.
[5] Siehe in diesem Blog: „B“ = „Büro für Chancengleichheit“.
[6] Im Vorbeigehen nimmt sich der Verf. eine Lese-Empfehlung heraus: In Schopenhauers Lehre vom akademischen Streit ist dies der „Kunstgriff 21“ – „argumentum ad hominem“ / „Argument, gegen den Menschen gerichtet“, also nicht gegen die Sache selbst. Als rhetorische Abwehr rät Schopenhauer in „Kunstgriff 21“ zum Argument „ad hominem ex concessis“, den Gegner mit dessen eigener Waffe zu schlagen. Die „Überalterten“ hätten sagen können, die Mittelbauer seien noch grün hinter den Ohren. Es komme, so der Philosoph, „ja nicht auf die Wahrheit, sondern den Sieg an“. Diese witzige Schrift sei allen dringend empfohlen, die z. B. nach Vorträgen oder auf dem Podium debattieren müssen. Volltext: http://www.wendelberger.com/downloads/Schopenhauer_DE.pdf.
… und die systemischen Probleme immer noch weit davon entfernt gelöst zu sein. Heute essen die Institutsleiter mit den Doktoranden zusammen im Seekasino (Danke an dieser Stelle an meinen Chef *g*), was vor allem daran liegt, dass sie ja selber stark von den 68gern beeinflusst wurden. Aber die Doktoranden und jungen Post Docs arbeiten immer noch mit kurzen, befristeten Verträgen, so dass sie keine Kredite bekommen oder Familien gründen können, obwohl sie die eigentliche wissenschaftliche Arbeit leisten. Da wundert es kaum, wenn die besten Doktoranden in die Wirtschaft gehen und nicht in der Wissenschaft bleiben.