I.

Das Archiv des Forschungszentrums Jülich ist dem Vorstand und der Zentralbibliothek zugeordnet. Es enthält derzeit rd. 6.000 Akten. Das ist nicht einmal ein halber Aktenkilometer, aber für den einzelnen bearbeitenden Historiker eine beachtliche Menge. Große Archive wie etwa das Bundesarchiv oder das Landesarchiv NRW umfassen weit über 100 Aktenkilometer. Die übriggebliebenen Stasi-Akten: 50 Kilometer.

Im Gegensatz zu einem „toten Archiv“, zum Beispiel mit Dokumenten über niedergegangene Klöster, „lebt“ das Jülicher Archiv. Es kommen ständig neue Unterlagen hinzu.

Der Archivierungszeitraum umfasst  etwas mehr als 60 Jahre. Die ältesten Vorgänge betreffen eine geplante europäische Urananreicherungsanlage.

(ABBILDUNG 1 – Ältestes Dokument im Archiv)

 

Die zur Zeit jüngsten Vorgänge stammen von 2018:

(ABBILDUNG 2 – Neueres Dokument im Archiv)

 

Es handelt sich um das Beschlussprotokoll einer Vorstandssitzung im Frühjahr 2018. Unterlagen der Vorstandssitzungen sind serielle Quellen. Dokumentiert sind regelmäßig stattfindende Sitzungen. Unterlagen der Vorstandssitzungen sind das umfangreichste serielle Material im Archiv. Voraussichtlich im Mai 2020 wird die 1.000. Vorstandssitzung stattfinden. Die Akte einer Vorstandssitzung besteht aus Protokoll, Ergebniszusammenfassung und Vorlagen zu den einzelnen Tagesordnungspunkten. Diese Vorlagen umfassen manchmal nicht mehr als 100 Blatt, andere füllen gleich zwei Leitzordner.

Aber natürlich enthält das Archiv nicht nur Serielles, sondern auch zahlreiche Einzelvorgänge, zum Teil mit vertraulichen Unterlagen. Wir erfahren, warum Frau Dr. X in eine höhere Entgeltgruppe eingestuft werden soll, Herr Dr. Y aber auf gar keinen Fall. Ab der Gruppierung nach E 15 hat der Vorstand zu entscheiden.

Umfangreich dokumentiert sind Auswahlverfahren für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In den Berufungs- und Wiederberufungsakten finden wir persönliche Daten wie Bewerbungsschreiben und Lebensläufe, auswärtige Gutachten. Über besonders heftige Konflikte in Instituten oder Organisationseinheiten sind Einfallakten angelegt worden. Eine ganze Reihe von Akten muss also als höchst sensibel bezeichnet werden.

Man kann daher einer Doktorandin im Fach Geschichte, die Jülicher Archivmaterialien auswerten möchte, nicht sagen: „Hier der Schlüssel … um zwölf hole ich Sie ab, dann können wir zum Essen gehen. Das Kasino ist gleich da drüben.“

Der Archivleiter, nämlich der Verfasser, entscheidet darüber, welche Akten ausgewertet werden können. In Zweifelsfällen wendet er sich auch nach „oben“.

Eine ganze Reihe von Historikerinnen und Historikern haben hier in Jülich Akten ausgewertet. Auf Basis von Jülicher Archivalien sind akademische Qualifikationsarbeiten entstanden, aber leider nicht so viele, wie der Verfasser wünschte. Vermutlich sind die möglichen Sujets vielen Geisteswissenschaftlern zu „technisch“, zu „naturwissenschaftlich“, besteht kein Interesse oder es fehlt die akademische Anleitung, C. P. Snows “Two Cultures“-Schema zu überwinden.

Natürlich findet sich auch Groteskes: Ein Landwirt bittet darum, seine Kühe auf dem Gelände des Forschungszentrums weiden zu lassen, weil das Gras hier besonders saftig sei, ein Tüftler schreibt, er habe ein Perpetuum Mobile konstruiert, er werde aber von etablierten Wissenschaftlern gemobbt, weswegen seine Erfindung nicht anerkannt werde, ein Hobby-Physiker berichtet von einer überaus bedeutenden Entdeckung, und wer diese nicht anerkenne und nutze, der habe „nicht alle Tassen im Schrank“. Auch Schreiben des in den 1950er und 1960er Jahren gegen die Kernenergienutzung agitierenden Korvettenkapitäns X fehlen nicht. X behauptete, „die Russen“ würden die Kernenergienutzung im Westen fördern, um die Gene der Europäer zu zerstören. Dies erinnert an die Obsession des US-Air-Force-Generals Jack D. Ripper in Stanley Kubricks „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“.

II.

Über ein „eigenes“ Archiv zu verfügen, ist das Glück des Historikers. Was sind neben der Routine des Verzeichnens seine Aufgaben?

Nennen wir fünf Haupttypen:

  • Faktenfragen beantworten, etwa nach Ehrenmitgliedern der einstigen Kernforschungsanlage.
  • Quellenbasierte Vorträge intern und extern.
  • Expertisen auf Archivalien- und Literaturbasis, so Papers über die Geschichte der Zusammenarbeit des Forschungszentrums mit israelischen Forschungseinrichtungen oder mit Südkorea. Skizzen der Entwicklung des Jülicher Supercomputing seit den frühen Tagen des „Zentralinstituts für Angewandte Mathematik“ (ZAM) und – darauf aufbauend –  die Frage nach einer Typologie von Institutsentwicklungen. Das Adressatenspektrum reicht von den Leitungen einzelner Jülicher Institute über den Vorstand, den Aufsichtsrat bis hin zum Bundesministerium für Bildung und Forschung. Auch die Anfrage eines hohen Offiziers der Bundeswehr konnte beantwortet werden. Frage war, ob eine Kaserne nach Leo Löwenstein benannt werden könne. Dies ist inzwischen geschehen.[1]
  • Untersuchungen über Erfolg und Scheitern von Großprojekten mit anschließenden Reflexionen darüber, was „Scheitern“ eigentlich in einer Großforschungseinrichtung bedeutet.
  • Vor allem im Jahr 2016, sechzigstes Gründungsjubiläum des FZJ, verstärktes History Marketing.

III.

Die Rede war vom Scheitern. In den 1990er Jahren bewarb sich das Zentrum als Standort für die europäische  Spallationsneutronenquelle (ESS). Die Bemühungen hatten keinen Erfolg, wie man in diesem Blog nachlesen kann.[2]

Zunächst wurde das Projekt auf Landes-, Bundes- und Europa-Ebene, auch in weiten Teilen der einschlägigen Scientific Community befürwortet. Es wurden Tagungen durchgeführt, die Öffentlichkeitsabteilung lief auf Hochtouren, die Medien standen auf Jülicher Seite. Doch wie der Schachspezialist einer Partie ansehen kann, dass sie kippt, noch bevor die Spieler etwas merken, so können wir dem ESS-Projekt bereits in der frühen Phase ansehen, dass aus der Partie nichts werden sollte. Der Historiker ist schlauer. Hinterher.

Zeitentscheidungen sind Wertentscheidungen. Es wurde allmählich Langsamkeit produziert  –  häufig ein Indiz für späteres Scheitern. Das Bundesministerium zierte sich plötzlich, ausländische Wissenschaftler äußerten Bedenken, man begann, das Vorhaben, kaputt zu begutachten. Schließlich  – dies alles sehr verkürzt –  bereitete eine Stellungnahme des Wissenschaftsrats dem Projekt ein Ende. Daraufhin entstand mit dem Wissenschaftsrat ein Konflikt, der nur furios genannt und vermutlich auch als einmalig angesehen werden kann.

Werden Kommunikationspfade verfolgt, Ergebnisse von Besprechungen gelesen, Forschungsprogramme und Berichte an den Aufsichtsrat studiert, so können wir die Entwicklung von Wissenschaft und Wissenschaftsorganisationen wie in einer Laborsituation studieren. Eine historische Untersuchung des ESS-Vorhabens auf Quellenbasis des Jülicher Archivs würde zu wesentlichen Erkenntnissen über das Zusammen- und Gegenspiel von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik sowie der Konkurrenzen innerhalb der Scientific Communities gelangen, und zwar national wie international. Diese Erkenntnisse würden weit über das Forschungszentrum hinaus von Bedeutung sein und könnten  – davon ist der Verfasser überzeugt –  zur Strategieberatung von Wissenschaft, Wissenschaftsmanagement und Wissenschaftspolitik herangezogen werden.

Historische Analyse hat ein Erkenntnis-Surplus über den Untersuchungsgegenstand hinaus zu erbringen.[3] Wer über die Geschichte des Forschungszentrums alles weiß, aber weder die Zusammenhangsgeschichte kennt noch sich zu einer theorie-geleiteten Analyse aufzuschwingen vermag, der weiß über das Forschungszentrums  – pointiert geredet –  nichts. Folglich muss eine geschichtswissenschaftliche Arbeit auf Basis des Jülicher Archivs daran gemessen werden, was wir über Jülich hinaus erfahren. Ein ganzer Strauß von Themen bietet sich an.

Vier Beispiele:

  • Jülicher Expertisen über zu erwartende ökologische Konsequenzen des chinesischen „Drei-Schluchten-Projekts“.
  • Wissenschaftsverständnis zwischen anwendungsorientierter Forschung, Grundlagenforschung, und nutzeninspirierter Grundlagenforschung.
  • Die Programmgruppen „Technik und Gesellschaft“ (TUG), „Mensch, Umwelt, Technik“ (MUT) und „Technikfolgenforschung“ (TFF).
  • Berichte des „Internationalen Büros“, das im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft wissenschaftliche Kooperation organisierte: Ägypten, Argentinien, Brasilien, Indien, Israel …

IV.

Zum Schluss soll eine besondere Quellensorte vorgestellt werden, die wir als „Reiseberichte“ bezeichnen können: Dienstreise- und Konferenzberichte, Berichte über auswärtige Schulungen. Das Archiv enthält deren Hunderte. Sie reichen von 1957 bis 2017. Wie die bereits genannten Berichte des „Internationalen Büros“ sind auch die Reiseberichte von mentalitätshistorischem Interesse, schon, weil wir verschiedene Generationen kennenlernen.

Den Berichten ist zu entnehmen, wie die bundesdeutsche Scientific Community wieder international vernetzt wird, wie das Forschungszentrum auf nationaler Ebene mit der DFG und der VW-Stiftung zusammenarbeitet, wie man Anschluss an die neuesten technischen Entwicklungen sucht.

Letzteres geht aus einem Bericht hervor, dem wir uns kurz zuwenden wollen. 1963, zu einer Zeit, als in kleineren Bibliotheken Ausleihscheine und Karteikarten noch in Zigarrenkisten aufbewahrt wurden, wollten Mitarbeiter der Jülicher Zentralbibliothek im Deutschen Rechenzentrum Darmstadt das Programmieren an der IBM 7090 lernen.

Zunächst befand sich im Maschinensaal gar keine funktionstüchtige IBM 7090, sie wurde erst aufgebaut. Der Kurs begann, heute eher unüblich, mit einer historischen Einführung. Der Berichtsverfasser war bemüht, Basics zu erklären: „Dualsystem (Prinzip ja oder nein, Eins oder Null)“. Ironische Distanz wird deutlich, wenn er hochtrabende Namen wie „GENIAC“ oder „BRAINIAG“ nennt, die Kursteilnehmer ihre eigene virtuelle Maschine dagegen „FOOLIAC“ tauften.

Aber lesen Sie selbst: „1Programmierkurs für Nichtnumeriker


[1] Die Familie Löwenstein war mit den Eltern des FZJ-Gründers Leo Brandt eng befreundet. Brandt erhielt seinen Vornamen nach Leo Löwenstein. Dieser, geb. 1879 in Aachen, Chemiker und Physiker, Doktorat im Jahre 1905, war im Ersten Weltkrieg Hauptmann gewesen, EK I und EK II. Er gründete 1919 den Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten und war dessen Vorsitzender. 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte und ging in die Schweiz.

Leo Löwenstein verstarb 1956 in Israel. Er war Erfinder der militärischen Schallmessung, um Waffen und Truppen zu orten. Das Verfahren wurde ständig vervollkommnet. Von hier aus führte der Weg zu den Funkmessverfahren (Radar), und Leo Brandt kann als der wichtigste deutsche Radarspezialist und –Konstrukteur im Zweiten Weltkrieg gelten. 1929 begann Leo Löwenstein mit Versuchen zur Raketenfernlenkung. Es ist hervorzuheben, dass über 25 seiner Patente zivile Entwicklungen betrafen.

[2] Siehe: „E = European Spallation Source (1993 – 2003)“.

[3] Siehe dazu die etwas ältere, aber wohl nicht angestaubte „Einführung in die Interpretation historischer Quellen: Schwerpunkt Neuzeit“, hg. v. Bernd-A. Rusinek, Volker Ackermann und Jörg Engelbrecht, Paderborn 1992. Darin auch ein Beitrag über die Interpretation von Sitzungsprotokollen, der u. a. auf Gesprächen mit einem Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des Forschungszentrums Jülich beruht.

About Bernd Rusinek

Prof. Dr. Bernd-A. Rusinek leitet seit Anfang 2007 das Archiv des Forschungszentrums, zugleich lehrt er Neuere und Neueste Geschichte in Düsseldorf.

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