Am 13. November 1995 wurde die „Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren“ gegründet. Man war historisch informiert und hat nicht etwa den Namen „Helmholtz-Gesellschaft“ gewählt. Diese war 1920 entstanden, um auf Spendenbasis wissenschaftlich-technische Instrumente anzukaufen und Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen sowie Auslandsstipendien zu gewähren.
Wer war unser Namenspatron?
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Hermann von Helmholtz war Universalgelehrter und „seiner ganzen Natur nach Humanist“ (Walther Gerlach). Er war Wissenschaftstheoretiker, Arzt, Physiologie, Physiker, Musiktheoretiker, Experte für Ästhetik und Mathematiker. Unter seinen Funktionen sind hervorzuheben: Universitätsrektor, Wissenschaftsorganisator, erster Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR).
Die Karriere verlief keineswegs geradlinig: Dr. med., Unterarzt, Militärarzt, Dozent für Anatomie an der Berliner Kunstakademie, ab 1848 Professor für Physiologie in Berlin, ein Jahr darauf für Physiologie und Pathologie in Königsberg, 1855 ebenfalls für Physiologie in Bonn. Von dort aus ging es nach Heidelberg (1858).
Helmholtz‘ Eltern hatten ihn nicht Physik studieren lassen wollen, weil dieses Fach als brotlose Kunst galt. Gleichwohl widmete er sich in Forschung und Publikationen zunehmend der Physik. 1870 folgte der Ruf auf den bedeutenden Berliner Physik-Lehrstuhl, den zuvor Heinrich Magnus innegehabt hatte. Seit den 1880er Jahren betrieb Helmholtz gemeinsam mit seinem Freund Werner Siemens die Gründung der PTR, deren erster Direktor er 1888 wurde. An der PTR Berlin-Charlottenburg waren im Laufe der Zeit solch prominente Physiker tätig wie Walther Bothe, Hans Geiger, Walther Nernst, Friedrich Paschen und Otto Heinrich Warburg.
Der Wissenschaftstheoretiker
Helmholtz begann seine Studien zu einer Zeit, da die Physik, insbesondere ihre empirische Methode, zu den Stiefkindern der universitären Wissenschaften zählte. Über weite Strecken dominierte die so genannte „Naturphilosophie“ und streckte ihre Fühler insbesondere auf Medizin, Physik und Chemie aus. Aus der Hegel- und Schelling-Schule hervorgegangen, sah sie alles von einem Geist bestimmt, von einer Idee, und operierte deduktiv (die Idee rangiert vor der Realität), wogegen die moderne Wissenschaft induktiv vorgehen muss (die Realität kontrolliert die Idee, etwa eine wissenschaftliche Hypothese). Mit naturphilosophischen Lehrmeinungen wie „Das Silber ist die Seele des Quarz“ konnte Helmholtz nichts anfangen. Dies mochte den Geisteswissenschaften vorbehalten bleiben. Der Begriff „Geisteswissenschaften“ wurde von Helmholtz überhaupt erst in die deutsche Sprache eingeführt. In seiner Heidelberger Rede „Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft“ verfocht er als Wissenschaftstheoretiker das Prinzip der Induktion, der Empirie und des Experiments als Verfahrensweise der naturwissenschaftlichen Forschung. In seinem Kampf für die Naturwissenschaft als Wissenschaft bildete Helmholtz ein Triumvirat mit Rudolf Virchow (1821 – 1902) und dem heute zu Unrecht vergessenen Emil Du Bois-Reymond (1818 – 1896), einem der wortgewaltigen Kathederlöwen des 19. Jahrhunderts. Wie Helmholtz kamen auch Virchow und Du Bois-Reymond von der Medizin her.
Der Wissenschaftler
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Die Zahl der wissenschaftlichen Leistungen Hermann von Helmholtz‘ ist fast unüberschaubar: Helmholtz-Spule, Helmholtz-Resonator, Helmholtz-Differentialgleichung. 1846 formulieren Robert Mayer und Helmholtz den ersten Hauptsatz der Thermodynamik. 1847 erkannte er in der Energie-Erhaltung das beherrschende Naturgesetz. („Die Erhaltung der Kraft“), er entdeckte die funktionelle Wärmebildung der Muskeln und bestimmte die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreize. 1862 erschien Hemholtz‘ Lehre von den Tonempfindungen. Für ihn bestand das Ziel der Theoretischen Physik darin, sich in Mechanik aufzulösen. Man hat ihn als „großen Vollender der klassischen Physik“ bezeichnet. Er glaubte nicht an eine weitere Revolution in der Physik. Aber dann erarbeitete Max Planck die Quantentheorie. Planck sah in Helmholtz seinen „Patron“ und sein „Idol“. (Dieter Hoffmann)
Nähern wir uns nun Einzelheiten, die nicht so leicht gegoogelt werden können. Geradezu populär und noch bei jedem Augenarzt in Gebrauch ist der 1850 von Helmholtz erfundene Augenspiegel zur Untersuchung der lebenden Netzhaut. Zunächst traf die Apparatur auf Widerstände innerhalb der Universitätsmedizin, da Medizin und Experiment zu eng zusammengerückt erschienen. Später, nachdem sich der Erfolg eingestellt hatte, erschien es Helmholtz als „lächerlich“, dass Andere so „vernagelt“ sein konnten, um nicht ebenfalls auf die Idee des Augenspiegels gekommen zu sein.
Dies stimmte allerdings nicht. Der prominente Mediziner Adolf Kußmaul (1822 – 1902) hätte den Augenspiegel beinahe erfunden, aber um das Gerät zu konstruieren, hatten ihm die physikalischen Kenntnisse gefehlt. Frustriert berichtete er Helmholtz über diese Erfahrung. Helmholtz tröstete mit den Worten eines vor Selbstbewusstsein strotzenden Mannes: Dem berühmten Physiologen Brücke sowie dem Kliniker Gräfe sei die Erfindung ebenfalls nicht gelungen. Helmholtz ophthalmologische, also augenkundliche Forschungen waren von erkenntnistheoretischer Konsequenz. 1878 führte er aus, unsere Wahrnehmungen würden niemals ein Abbild der Außenwelt, sondern höchstens ein Zeichen der Außenwelt liefern („Die Thatsachen in der Wahrnehmung“).
Helmholtz‘ hatte sich als Forscher sozusagen drei große claims abgesteckt: Physiologie, theoretische und experimentelle Physik, Mathematik. Man kann aber nicht in hübsch geordneter Chronologie von einer physiologischen, einer physikalischen und einer mathematischen Schaffensphase sprechen. Nicht von einem Nacheinander, von einem Ineinander muss die Rede sein. Nennen wir ein Beispiel: Helmholtz‘ physikalische Schwingungsarbeiten führten zur Lehre von den Tonempfindungen als physiologischer Grundlage einer Theorie der Musik. Hieran fügten sich historische Studien über persischarabische Musik. 1859 gelang der Nachweis, dass Vokale aus Teiltönen zusammengesetzt sind. Wir wissen, dass Alexander Graham Bell die einschlägige Publikation von Helmholtz nicht nur kannte, sondern von ihr auch entscheidend inspiriert worden war. Spätestens hier erkennen wir, wie trefflich der Name „Helmholtz“ von der HGF gewählt worden ist: „Helmholtz“ als erkenntnisleitende Idee.
Helmholtz wurde neben Alexander von Humboldt als der zweite deutsche Universalgelehrte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Wie Humboldt befasste er sich in zahlreichen Untersuchungen mit Naturerscheinungen, mit Gletschern, Gewittern, Wasserwellen, Wirbelstürmen und Wolken. Er schuf die ersten sicheren Grundlagen für die Wettervorhersage, ja, man ging so weit zu sagen, dass Helmholtz die Meteorologie als Wissenschaft begründete.
Somit wären die Forschungen Helmholtz‘ in gerade noch vertretbarer Kürze genannt.
Lästige Lehre
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Wenn wir von seiner Tätigkeit an der Berliner Kunstakademie absehen, so ist Helmholtz von 1848 bis 1888 Universitätsprofessor gewesen. Die „Einheit von Lehre und Forschung“ war das allgemein anerkannte, wie eine Monstranz vor sich her getragene Prinzip der deutschen Universität und ihrer Gelehrten. Ein Blick auf wissenschaftliche Koryphäen als wissenschaftliche Lehrer, unter ihnen Helmholtz, mag aufschlussreich sein.
Die Vorlesungen der Physiker Arnold Sommerfeld (1868 – 1951) oder Max Planck (1858 – 1947) waren didaktisch hervorragend aufgebaut und galten als wahre Kunstwerke. Aber z. B. der Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen (1845 – 1923) war kein Freund der akademischen Lehre. Seine Vorlesungen galten als langweilig. Die Studenten sprachen von Röntgens fortlaufenden Lehrveranstaltungen: Die Hörer liefen fort. Vor Beginn der Vorlesung einer anderen wissenschaftlichen Weltberühmtheit hatte ein Student auf die Tafel geschrieben: “Ave, dormituri te salutant!“[1] Virchow erschien immer erst um „halb“ und war immer schlecht gelaunt. Der namhafte Heidelberger Neurologe Wilhelm Erb (1840 – 1921) hatte die Lehre und die Prüfungen so satt, dass er einmal vor den Augen der Examinanden deren Anmeldungen zerriss, auf den Papierfetzen herumtrampelte und schrie, er wolle lieber tot sein als ewig zu examinieren. So sehr erregte sich Helmholtz nicht, aber die Lehre war auch ihm kein Vergnügen. Den Studenten ebenfalls nicht. Er erschien ihnen als „trockener Dozent, der selbst ersichtlich wenig Freude an dieser Art von Tätigkeit hatte“.
Dennoch war Helmholtz ein begnadeter Vortragsredner und einer der Pioniere seriöser Wissenschaftspopularisierung. Von seinem Prinzip, Vorträge zu verfassen, können wir lernen: Der Materialsammlung und ersten Strukturierung folgte eine Phase der Ruhe, die Helmholtz als „Tempelschlaf“ bezeichnete. Stets trug er ein Notizheft bei sich, worin er seine Ideen und Eingebungen festhielt. Es lag sogar auf dem Nachttisch. Auf der Basis seiner Tempelschlaf-Ideen erfolgte als dritte Phase die Niederschrift.
Der Nobelpreisträger Max von Laue (1879 – 1960) hatte an der Universität Berlin die völlige Befreiung von den Vorlesungsverpflichtungen erreichen wollen, was ihm aber nicht gelang, wenngleich es für alle Seiten besser gewesen wäre, denn v. Laues Vorlesungen werden als „für Zuhörer und Dozent gleich qualvoll“ geschildert. Helmholtz gelang der Befreiungsschlag, wenn auch nicht völlig. Schon Siemens hatte bedauert, dass Helmholtz dem Lehramt soviel Zeit widmen müsse und zu wenig zu seiner Forschung komme. Als PTR-Präsident war Helmholtz den Lehrverpflichtungen großenteils enthoben und konnte sich seinen Ideen widmen. Er war ein stets sprudelnder Quell der Ideen.
Wir kennen es alle: Wir sitzen am Schreibtisch oder im Labor, schauen aus dem Fenster, und es fällt uns nichts ein, wir haben keine Ideen. Auch Helmholtz kannte diese Erfahrung. Aber er wusste Rat, und wieder können wir von ihm lernen. Seine Einfälle und Ideen, so berichtete er, kamen ihm beim Waldspaziergang auf langsam ansteigender Höhe.
Hat der Jülicher Campus eine ähnliche Funktion?
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Für Interessierte:
Gerlach, Walther, Hermann Helmholtz als Naturforscher, in: Ders., Humanität und naturwis-senschaftliche Forschung, Braunschweig 1962, S. 123 – 132
Helmholtz, Hermann v., Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft, 1862 (Im NET sub „Projekt Gutenberg DE“)
Helmholtz‘ Gesammelte Schriften, 18 Bde., sind in der ZB vorhanden: AL H 24
Noch immer lesenswert:
Königsberger, Leo, Hermann von Helmholtz. 3 Bde., Braunschweig 1902; Ndr. Hildesheim 2003 (auch sub: google books: https://archive.org/details/hermannvonhelmh09koengoog)
(Die Beispiele aus der akademische Lehre in: Verf., „Professorale Welt“, unpubl. Ms.)
[1] „Die Schlafgeweihten grüßen Dich!“ Anspielung auf den römischen Gladiatorengruß „Ave Caesar, morituri te saluntant!“ („Heil Dir, Caesar, die Todgeweihten grüßen Dich!“).
Von „dem heute zu Unrecht vergessenen Emil Du Bois-Reymond (1818 – 1896), einem der wortgewaltigen Kathederlöwen des 19. Jahrhunderts“:
https://www.academia.edu/2280700/Emil_du_Bois-Reymond_Neuroscience_Self_and_Society_in_Nineteenth-Century_Germany